Pierre Klein
Im November 1918 erlebte Elsass-Lothringen seine letzten Tage im Rahmen des Deutschen Reichs, in das es seit 1870/71 als Reichsland mit einem Teil Lothringens durch den Frankfurter Vertrag ordnungsgemäß integriert worden war. Die Elsässer, die vom Protest zum Wunsch nach weitgehender Autonomie übergingen, passten sich schließlich an die Situation an und entwickelten sogar eine gewisse Loyalität gegenüber den politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen[1] und kulturellen Rahmenbedingungen. Das Elsass profitierte insbesondere ab 1911 von einer relativen Autonomie, die ihm eine Verfassung, ein Parlament und eine Regierung zugestand. Etwas, das keine Region in Frankreich je hatte – bis heute. Im Allgemeinen ist jedoch eine Identifikation-Distanzierung gegenüber Deutschland zu verzeichnen. Konfrontiert mit der Identitätsfrage entwickelte sich ein spezifisch elsässisches Identitäts- und Kulturbewusstsein. Auch kann man behaupten, dass das Elsass während dieser Zeit eine « nationale » Erfahrung machte.
Die Erfahrung der Autonomie, so kurz sie auch war, sollte die Gemüter dennoch nachhaltig prägen. Im November 1918 machte Frankreich all dem ein Ende. Und das Elsass kehrte schlicht und einfach zum Ausgangspunkt zurück, d. h. zu dem Status, den es vor 1870 gehabt hatte. Mit anderen Worten: auf gar nichts! Es existierte damals verfassungsrechtlich und als Gebietskörperschaft schlichtweg nicht und war offensichtlich nicht die einzige Region in diesem Fall. Im Übrigen war das feierliche Versprechen, das General Joffre den Elsässern 1914 gab, die elsässischen Freiheiten zu respektieren, von den französischen Regionalisten so interpretiert worden, dass es der Beginn der großen dezentralisierenden Reform sein sollte, die sie herbeisehnten.
Es geht nicht darum, die Rückkehr des Elsass zu Frankreich zu bedauern, das wäre lächerlich. Aus demokratischer Sicht kann man jedoch nur bedauern, dass die politische Klasse des Elsass in diesen für die politische, kulturelle, sprachliche, identitätsstiftende, soziale und wirtschaftliche Zukunft der Region so entscheidenden Tagen nicht mehrheitlich die Gelegenheit ergriffen hat, einen Status von Frankreich anerkennen zu lassen, der zwar noch perfektioniert werden musste, es dem Elsass aber ermöglichte, die Dinge, die es besonders betrafen, so nah und so gut wie möglich zu regeln und ganz einfach als politische Institution zu existieren.
Wenn dies geschehen wäre, hätte Frankreich dazu gebracht werden können einen großen Schritt vorwärts in Richtung mehr lokaler Demokratie zu wagen. Das Experiment, das es mit dem Elsass gemacht hätte, hätte später als Grundlage für eine echte Regionalisierung dienen können, in erster Linie aus demokratischen Erwägungen. Denn eine echte Demokratie gibt es nur mit vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung. All diese Dinge waren damals in Frankreich nicht eindeutig festgelegt. Sind sie es heute? Das ist eine andere Geschichte. So hätte die Revolution-en von 1918 ausgehen können oder sollen. An diesem Punkt der politischen Geschichte hätten beide die Gelegenheit gehabt, sich eine weitgehende Lokaldemokratie gegenseitig zu beschenken, bzw. im Elsass zu behalten und in Frankreich einzuführen. Doch daraus wurde nichts.
Revolution in Deutschland
Im Laufe des Jahres 1918 wendet sich der seit 1914 andauernde Krieg eindeutig zu Ungunsten Deutschlands, insbesondere da die USA mit einem großen Kontingent an der Seite Frankreichs und seiner Verbündeten stehen. Und im November kommt es zur Revolution. Das Regime wird fast ohne Widerstand gestürzt. Die militärische Niederlage, so wichtig sie auch war, war nicht der einzige Grund dafür. Während des Krieges hatte sich hinter der Front und innerhalb der Truppe selbst allmählich eine starke und vielfältige Unzufriedenheit entwickelt, die schließlich in einem Volksaufstand von Arbeitern und Soldaten endete. Dies zeigt, wie unpopulär das Regime und wie unerträglich der Krieg geworden waren. Mehr noch als die Knappheit war es die ungleiche Verteilung, die seit 1916 Demonstrationen und Streiks auslöste. Ende September räumte der deutsche Generalstab die Niederlage ein und drängte auf eine Feuereinstellung.
Präsident Wilson, der einen Friedensplan vorgeschlagen hatte, deutete jedoch an, dass ein Frieden ohne die Abdankung Wilhelms II. nicht in Frage käme. Im Oktober schlug die herrschende Klasse die Einführung eines parlamentarischen Systems vor. Die Aufgabe wurde einem neuen Kanzler, Max von Baden, übertragen. Die Reform von oben sollte der Revolution von unten zuvorkommen. Doch zu spät! Am 28. Oktober meuterten Matrosen in Wilhelmshaven, als der Generalstab eine letzte Generaloffensive der deutschen Marine starten wollte. Am 3. November greift die Bewegung auf Kiel über, wo Soldaten und Arbeiter die Macht an sich reißen. Die Revolution breitet sich rasch auf das gesamte Kaiserreich aus.
Die erste Krone, die von Bayern, fällt am 7. November. In Berlin verkündet eigenmächtig Max von Baden am 9. 11. die Abdankung von Wilhelm II. als deutscher Kaiser und als König von Preußen. Der Kaiser begreift endlich die Situation, in die er Volk und Land gestürzt hat, und kann nicht anders, als sich damit abzufinden. Ebenfalls am 9. 11. gab Friedrich Ebert nach dem Rücktritt Max von Badens seine Ernennung zum Reichskanzler bekannt. Philipp Scheidemann ruft die Demokratische Republik aus und Karl Liebknecht die Freie und Sozialistische Republik. Am 10. 11. bilden sich im ganzen Reich Arbeiterräte und Soldatenräte. Diese Revolutionäre arbeiten teils auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hin, teils – eine Minderheit, die sich von der bolschewistischen Revolution inspirieren lässt – auf die die Diktatur des Proletariats. Der Waffenstillstand wurde am 11. 11. in Compiègne unterzeichnet. Der Krieg ist beendet. Die Revolution ist in vollem Gange.
Revolutionen im Elsass
- Die elsässischen Gegebenheiten
- Französische Auswirkungen.
Es ist allgemein bekannt, dass Frankreich, wenn es aus dem Konflikt siegreich hervorgeht, die volle Souveränität über das noch bestehende Elsass-Lothringen beanspruchen wird. Darüber hinaus hatte es seit 1870 eine Propaganda zu seinen Gunsten betrieben und verfügte dort über Multiplikatoren. Darüber hinaus herrscht noch in der Region ein « französisches Gedächtnis », eine Nostalgie für das Land der Revolution und der Menschenrechte, für seine Sprache und Kultur, für seine Wirtschaft und seine Bourgeoisie in denen viele in der Vergangenheit ihr Auskommen gefunden haben. Nicht zu vergessen die elsässischen Veteranen des Krieges von 1870, die noch zahlreich überleben und zur Aufrechterhaltung einer Form von Melancholie beitragen. Je näher wir dem November 18 kommen, desto wichtiger wird diese Auswirkung, bis sie über andere triumphiert.
- Deutsche Auswirkungen.
Es ist auch klar, dass Deutschland, nachdem es die Niederlage zur Kenntnis genommen hat, alles in seiner Macht Stehende tun wird, um Elsass-Lothringen dennoch in seiner Mitte zu behalten. Zu diesem Zweck schlug es im Oktober 18 vor, Elsass-Lothringen als Bundesstaat mit den gleichen Vorrechten und Befugnissen wie die anderen Staaten im föderalen Gefüge zu etablieren. Es setzte auch auf die Schaffung eines neutralen Staates Elsass-Lothringen und auf ein Plebiszit, das es sich noch immer als gewinnbar und eine entsprechende Propaganda organisierte. Je näher das Ende des Konflikts rückt und vor allem, als das Kaiserreich unter dem Druck des Volkes zusammenbricht, verliert diese Wirkung an Effektivität, bis sie schließlich bedeutungslos wird und ihre Glaubwürdigkeit verliert.
- Elsässisch-lothringische Inzidenz.
Als sich das Ende des Krieges abzeichnete und gleichzeitig die Niederlage Deutschlands, zu dem das Elsass noch gehörte, immer deutlicher wurde, schmiedeten die in der Region vertretenen politischen Tendenzen unterschiedliche Zukunftsvorstellungen für die Region: Staat, neutrale Republik, sozialistische Republik, Autonomiestatus im französischen Rahmen, provisorische Regierung, die mit der Aushandlung der Rückkehr zu Frankreich beauftragt würde, oder bedingungslose Wiedereingliederung in Frankreich. Dies sind die Projekte, die ausgearbeitet werden und gegeneinander antreten, wobei sie allmählich von den ersten zu den letzten abgleiten, bis man keine eigene Zukunft mehr sieht.
- Amerikanische Auswirkungen.
In seinem Vierzehn-Punkte-Friedensplan, den Präsident Wilson am 8. Januar 1918 dem Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika vorstellte, empfahl er insbesondere die Durchführung von Plebisziten (Selbstbestimmung) in den Ländern und Regionen, die durch die in Vorbereitung befindlichen Verträge umstrukturiert werden sollten. In Bezug auf Elsass-Lothringen sprach er sich in Punkt 8 dafür aus, dass das Frankreich 1870 zugefügte Unrecht korrigiert werden sollten (should be rigthed). Diese Äußerungen werden die geistigen Repräsentationen nähren. Ihre Interpretation wird den einen Hoffnung geben und die anderen in ihren Gewissheiten bestärken.
- Die elsässischen Ereignisse
- Die Regierung Schwander-Hauss.
Als Max von Baden Anfang Oktober Kanzler wird, schlägt er vor, die Verfassung von Elsass-Lothringen aus dem Jahr 1911 zu ändern, um es zu einem gleichberechtigten Staat im deutschen Staatsverband zu machen. Am 14. 11. wurde Rudolf Schwander, Bürgermeister von Straßburg und Mitglied der Ersten Kammer des Landtags, zum Statthalter ernannt, der unter anderem die Aufgabe hatte, die angestrebte Umwandlung zu vollenden. Karl Hauss, Abgeordneter des Reichstags und des Landtags, Fraktionsvorsitzender des elsässisch-lothringischen Zentrums im Landtag, wurde zum Premierminister ernannt, der mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wurde. Graf von Andlau (Wirtschaft), Kanonikus Didio (Bildung) und Pastor Kuntz (Justiz) erklärten sich bereit, an dieser Regierung teilzunehmen, die, so legal sie auch sein mag, vielen als nicht den Umständen entsprechend erschien. Das Zentrum und die Sozialisten weigerten sich, an der Regierung teilzunehmen. Erstere schließt sogar diejenigen ihrer Mitglieder aus, die dies tun.
- Arbeiter- und Soldatenräte oder Sowjets.
Die Strömung der Revolte erreicht das Elsass in der Nacht vom 9. auf den 10. November und breitet sich schnell über die gesamte Region aus. In Straßburg, Mülhausen Schiltigheim, Colmar, Hagenau, Schlettstadt usw. werden Räte gebildet, die mehr aus Soldaten als aus Arbeitern bestanden. Am 10. November, nach der Abdankung Schwanders, lässt sich der Sozialist Jacques Peirotes in Straßburg zum Bürgermeister wählen und verkündet auf dem Straβburger Kleberplatz ohne weiteres die Republik. Ihrerseits verkünden auch auf dem Kleberplatz die Genossen Meyer und Rebholz an der Spitze der Arbeiter- und Soldatenräte zusammen mit Peirotes, dass die deutsche Regierung gefallen ist, und dass das Volk die Macht übernommen hat. Die sozialistische Republik wird ausgerufen. Zwei rivalisierende Exekutiven koexistieren kurze Zeit. Peirotes gehörte beiden an.
« Weder Deutsche, noch Franzosen, noch Neutrale. Die rote Fahne ist der Sieger » lautet weitgehend die Parole der Räte. Sie wurde von einigen als eine Drohung gegen die Wiedereingliederung in Frankreich aufgefasst, natürlich auch gegen die „bourgeoise“ Ordnung. Der Erfolg, den die Räte von Anfang an hatten, war eher auf die Ablehnung der Fortsetzung des Krieges und die bereits bestehenden sozialen Spannungen zurückzuführen als auf die nationale Frage. Diese gewann jedoch sehr schnell die Oberhand, insbesondere nachdem die Soldaten und Sozialisten, die nicht aus der Region stammten, in ihre Heimat zurückkehrten.
Die Räte werden schnell von der „Bourgeoisie“ und von den nun mehrheitlich rund um Peirotes frankophilen Sozialisten vereinnahmt. Die objektiven Verbündeten befürchten, dass die Bewegung ihnen entgleiten könnte. Die Räte, die einige Ausschreitungen verhindern konnten und zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum reibungslosen Ablauf der Demobilisierung beitrugen, werden genauso schnell wie sie erschienen waren, unbedeutend oder unterwerfen sich. In dem Maße, wie die französische Armee voranschreitet, wird sie die „bourgeoise“ Ordnung wieder an ihren Platz zurückbringen und die französische Ordnung einsetzen.
- Die neutralitische Bewegung.
Sie wurde im Wesentlichen vom Kaiserreich ins Leben gerufen, das in der Neutralität Elsass-Lothringens ein Mittel sah, die Rückkehr Elsass-Lothringens zu Frankreich zu verhindern und sich die Türen für die Zukunft offen zu halten. Sie wird vor allem von germanophilen Elsässer-Lothringern getragen – ja, es gab sie noch und sie waren nicht unbedeutend, ob im Elsässerbund vereint oder nicht -, die sich bemühen, eine Gegenpropaganda zur französischen Propaganda zu machen. Auch sie plädierten für die Selbstbestimmung. Von kurzer Dauer, eine gute Woche, brach sie zusammen, als das deutsche Regime gestürzt wurde.
- Im Reichstag.
Elsass-Lothringen entsandte 15 (11 für das Elsass, 4 für Lothringen) Abgeordnete in den Reichstag in Berlin. Es verfügte auch über 3 Sitze im Bundesrat. In diesen Tagen des Regierungsendes ist Pfarrer Haegy der letzte, der dort das Wort ergreift. Am 25. Oktober gab er dort eine Erklärung ab, in der er einräumte, dass es schwierig sei, die Absichten von Paragraph 8 des Wilson-Plans mit der Absicht, einen neuen Bundesstaat zu schaffen, in Einklang zu bringen, aber er hoffte, dass auf der Friedenskonferenz, wenn über das Schicksal von Elsass-Lothringen diskutiert wird, der Wunsch des elsässisch-lothringischen Volkes, über seine Zukunft selbst bestimmen zu können, berücksichtigt werden würde. Am Vortag hatte Eugen Ricklin erklärt, dass die Frage von Elsass-Lothringen von nun an eine internationale Frage sei und dass die Unterstützung für die Verfassungsänderung nicht angebracht sei. Beide waren prominente Vertreter des Zentrums, das gerade seinen Führer Karl Hauss fallen gelassen hatte. Zugegeben, da das Kaiserreich zusammenbrach, war seine Position nicht mehr haltbar.
- Der Landtag.
Der aus der Verfassung von 1911 hervorgegangene Landtag besteht aus zwei Kammern, wobei die zweite Kammer in allgemeiner und direkter Wahl gewählt wird. Letztere setzt sich aus 22 Abgeordneten des Elsass-Lothringischen Zentrums, 2 vom Nationalbund (Wetterlé und Delsor), 10 des Lothringer Blocks, 11 der Sozialdemokratie, 13 Demokraten und Liberalen sowie 2 Unabhängigen zusammen, also insgesamt 60 Abgeordnete. Eugen Ricklin vom Zentrum ist der Vorsitzende. Das Zentrum ist eine vorwiegend elsässische, katholische und soziale Partei. Von ihr stammt der Slogan « Das Elsass den Elsässern ». Sie ist gespalten zwischen den Befürwortern einer Verfassungsänderung hin zu mehr Macht und den Befürwortern der Neutralität. Die nationale Frage zieht sich durch alle Parteien. Es ist schwierig, hier Klarheit zu schaffen, da nicht immer alle ihre Verantwortung wahrnehmen, einige eine Vermeidungsstrategie verfolgen und andere um ihre politische Zukunft fürchten.
Der Landtag ist im Rahmen einer repräsentativen Demokratie des Volkes von Elsass-Lothringen nur in den ihm eigenen Bereichen repräsentativ. Darüber hinaus konstituierte die Verfassung von 1911 zwar einen Staat, eine Vormundschaft blieb jedoch bestehen. Dies führte dazu, dass die Volksvertretung in Bezug auf sie gespalten blieb. Für die einen ging sie zu weit, für die anderen nicht weit genug. Unter anderem aus diesen Gründen war der Landtag, als im November 18 die Macht zusammenbrach, machtlos und konnte nicht an ihre Stelle treten. Er hoffte, eine Lösung zu finden, indem er sich als Nationalversammlung oder Nationalrat etablierte. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte war das Zentrum zwischen den Anhängern der Selbstbestimmung und der bedingten Verhandlungen über die Rückkehr des Elsass zu Frankreich und den Anhängern einer bedingungslosen Rückkehr gespalten.
- Der Nationalrat.
Der Nationalrat wird am 11. November von Eugen Ricklin einberufen. Dieser nahm zur Kenntnis, dass es kein Kaiserreich mehr gab, und erklärte, dass die Souveränität folglich an das Volk und seine gewählten Vertreter im Landtag zurückfalle, dessen zweite Kammer zur Nationalversammlung oder zum Nationalrat erklärt wurde. Bereits Ende Oktober hatte die Mehrheit der Landtagsabgeordneten der Regierung Schwander-Hauss ihre Unterstützung entzogen.
Eine Regierung wird gebildet. Unter dem Vorsitz von Ricklin bestand sie u. a. aus Burger (Justiz), Heinrich (Wirtschaft), Pfleger (Inneres)… Auch Peirotes war dabei. Schwander und Hauss traten ihrerseits zurück. So verfügt Elsass-Lothringen laut Ricklin rechtmäßig über eine Macht, die in der Lage ist, über ein Plebiszit und die Rückkehr zu Frankreich zu verhandeln, wobei die Hoffnung besteht, dass die elsässischen Freiheiten erhalten bleiben.
Doch Ricklin, für den sich die Dinge sehr schnell umkehren und die Absichten zur Schau gestellt werden, wird bereits am nächsten Tag vom Lothringer Bock und vom Pfarrer Delsor an der Spitze einer Mehrheit, die sich nun für eine bedingungslose Rückkehr zu Frankreich entschieden hat, desavouiert. Ricklin wird von Hoen als Regierungschef abgelöst und Delsor übernahm die Leitung des Nationalrats. Zwar war Ricklins gewagte und revolutionäre Initiative angesichts der französischen Ambitionen nicht sehr gewichtig, aber der Versuch, dem Elsass besondere Befugnisse abzuringen, war es wert. Sie zu erlangen, hätte Frankreich nicht zum Zusammenbruch gebracht. Aber für Frankreich war es unerträglich, verhandeln zu müssen. Am 5. Dezember wollte der Nationalrat die Illusion einer demokratischen Machtübergabe erwecken und glaubte, er müsse Frankreich, von dem er zuvor völlig ignoriert worden war, die Treue schwören.
- Die wichtigsten elsässischen Protagonisten
Ricklin: Arzt, Mitglied des Zentrums, Reichstagsabgeordneter, Präsident der Zweiten Kammer des Landtags, seit 1917 Befürworter der Bildung eines föderierten elsässisch-lothringischen Staates, was ihm innerhalb seiner eigenen Partei vorgeworfen wurde, und später der Verhandlungen mit Frankreich, um Garantien in Bezug auf die elsässischen Freiheiten zu erhalten. Nach dem Krieg wurde er von einer Sortierungskommission verurteilt und von März 1919 bis Januar 1920 in Kork interniert.
Hauss: Journalist, Mitglied und Führer des Zentrums, Reichstags- und Landtagsabgeordneter, Chef der Regierung Schwander, Befürworter eines föderalen Staates, Ende Oktober 18 von seiner Partei desavouiert. Nach dem Krieg hat er kein Mandat als Abgeordneter mehr.
Delsor: Priester, Journalist, zunächst Befürworter eines föderalen Staates, betrachtet die Verfassung von 1911 als Rückschritt, wird in den Landtag gewählt, Mitglied des Zentrums, aus dem er 1917 austritt, um sich von Ricklin und seiner Positionierung von 1917 zu distanzieren. Nach dem Krieg ist er Senator.
Peirotes: Journalist, Sozialist, Mitglied des Landtags, des Exekutivrats der Sowjets und der Regierung des Nationalrats, bedingungsloser Befürworter der reinen Rückkehr zu Frankreich, lehnt die Selbstbestimmung ab, die er bis zum Ereignis von 1918 gefordert hatte. Nach dem Krieg war er Bürgermeister von Straßburg, Mitglied des Generalrats und Abgeordneter der Nationalversammlung.
- Der letzte Umsturz
Im November 18 beendete Frankreich die elsässische Lokaldemokratie mit dem sehr aktiven Engagement der frankophilen Fraktion, deren Zeit gekommen war, ob bürgerlich, sozialdemokratisch oder beides, die – nur scheinbar paradoxerweise – vor 1918 Selbstbestimmung, Autonomie, Zweisprachigkeit und « Doppelkultur » als Grundlage der elsässischen Identität gefordert hatten. Mit auch der aufgrund der Umstände weitgehend erreichten Zustimmung des Volkes von Elsass-Lothringen, das zu diesem Zeitpunkt der Geschichte zu sehr unter der seit 1914 herrschenden Militärdiktatur, den Verlusten an Menschenleben auf den Schlachtfeldern und den kriegsbedingten Entbehrungen gelitten hat, sich von Deutschland distanziert hat und unter enormem Druck und konsequenter Manipulation seitens Frankreichs stand, nicht mehr als solches existieren will.
Da dieses Volk nicht offiziell zu seinen Absichten befragt wurde, wird man nie erfahren, wie es wirklich um sie bestellt war. Anders verhält es sich mit der politischen und herrschenden Klasse, zumindest derjenigen, die den Kampf um die Wahrung der demokratischen Errungenschaften nicht angeführt hat und angeblich über die Hintergründe Bescheid wusste und was es bedeutete, sich Frankreich schlicht und einfach hinzugeben. Ihre Verantwortung ist angesichts der Geschichte groß. Zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass die Würfel im Voraus gefallen waren und die Macht, etwas zu tun oder nicht zu tun, anderswo lag, in Frankreich, beim Sieger.
Indem Frankreich die « nationale » elsässisch-lothringische Vertretung missachtete und das Volk von Elsass-Lothringen nicht nach seiner Meinung fragte, vollzog es aus übertriebenem Stolz einen regelrechten Kraftakt, was Zweifel daran aufkommen ließ, wie die Wiedereingliederung erfolgen würde. Die Durchführung letzteren ließ schnell den „Malaise“ – ein milder Euphemismus – der Zwischenkriegszeit aufsteigen, der zu einer echten politischen Krise wurde, in deren Verlauf ein bedeutender Teil der elsässischen politischen Klasse dem Kampf für die Verteidigung der elsässischen Freiheiten im französischen Rahmen wieder einen Sinn verlieh. Die Galionsfigur war dabei Camille Dahlet. Aber das ist eine andere Geschichte. PK
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[1] (die Arbeiterklasse genoss soziale Vergünstigungen, die ihrer Zeit weit voraus waren)